Vor kurzem habe ich in einem vollen Zug eine Familie beobachtet: Mutter, Vater, Kleinkind und die elf- oder zwölfjährige Tochter. Die nutzte die Unruhe der Bahnfahrt clever aus. „Ich habe mir Instagram aufs Handy geladen. Da kann man Fotos bearbeiten und hochladen. Ist doch okay, oder?“ „Wozu brauchst du das? WhatsApp reicht doch“, meinte der Vater. „Aber Papa, das haben alle meine Freunde.“ Worauf die Mutter, damit beschäftigt, den kleinen Jungen auf seinem Platz zu halten, erwiderte: „Ach lass sie doch. Das sind doch Kinder.“
Beide hatten erreicht, was sie wollten: Die Mutter Ruhe und die Tochter ihre neue App. Doch sind es nicht diese kleinen Momente, die die Weichen stellen? Mir ging in diesem Augenblick durch den Kopf, dass das Kinder sind, die mit Highspeed durch die virtuelle Welt surfen. Und als Mutter dachte ich sofort in Horrorszenarien: Dass das Mädchen Mobbing-Opfer wird, weil sie etwas postet, dessen Tragweite sie nicht einschätzt. Oder Täterin. Je lauter, schriller oder extremer Meinungs-Äußerungen im Netz, desto größer ist die Chance gesehen, geteilt, gelikt zu werden.
Fast täglich fegt ein Shitstorm inzwischen aus der Timeline in die reale Welt. Tobt über Querdenkern, Feministinnen, Ausländern, Inländern, Menschen mit Idealen, Normalos, Politikern oder Prominenten, schafft es mit seinen Vorurteilen bis auf die Straße und seine Ausläufern bis in die Abendnachrichten.
Eine Auswahl der vergangenen Tage: Merkel, die Häme erntet, weil sie dem Flüchtlingsmädchen Reem keine falschen Versprechungen macht und trotzdem auf sie zugehen will, dabei aber das Wort „streicheln“ statt „trösten“ benutzt und den Shitstorm #merkelstreichelt erntet. Das weinende Flüchtlingsmädchen Reem, das vom Moderator beim Merkel-Treffen zu Erzählungen über ihre Familiensituation animiert und danach im Internet mit Zustimmung und Hass überschüttet wird. Die Moderatorin Monica Lierhaus, die sich vorwerfen lassen muss, das Leben Behinderter abzuwerten, weil sie darüber spricht, dass sie sich nicht noch einmal der prophylaktischen Aneurysma-OP unterziehen würde. Der Schauspieler Til Schweiger, der eine Hilfsaktion für Flüchtlinge auf seiner Facebook-Seite teilt und dafür von Rassisten attackiert wird. Schweiger wehrt sich dagegen mit dem Post: „Verpisst Euch von meiner Seite, empathieloses Pack! Mir wird schlecht!!!"
Mir auch! Ich bin erschüttert wie viele Vorurteile, Hetze, Rassismus und Verachtung durchs Netz wabern. Überall bauen sich plötzlich Fronten auf, riesiger und mächtiger als zu analogen Zeiten. Auch damals in meiner Jugend konnten Worte Freundschaften zerstören, marschierte rechter Pöbel, wurde gemobbt. Aber es gab Zeit zu reden, die Möglichkeit zur Einsicht, Rückzugsorte. Worte konnten sich verflüchtigen. Es gab Raum fürs Ausprobieren, für Dialektik und Platz für Fehler. Es war eine behäbigere Zeit.
Im 21. Jahrhundert ist das Weltengefüge komplexer geworden, globalisierter und schneller. Im Sekundentakt werden Entscheidungen getroffen, Meinungen, Wünsche, Gedanken mit wenigen Zeichen in die digitale Ewigkeit zementiert, gespiegelt, verstärkt oder vorübergehend vergessen. Das Tempo wird sich nicht mehr drosseln lassen.
Wie soll man diesen Fronten begegnen? Ein 17-jähriger Lehrling schrieb im Netz grausamen und menschenverachtenden Dreck unter die Nachricht, dass die Feuerwehr in Österreich ein Willkommens-Bad für Flüchtlinge organisierte. Er wurde dafür von seinem Arbeitgeber Porsche fristlos gekündigt. Hart auf hart – wird das bei ihm Einsicht bringen? Ich finde es wichtig, dass Jugendliche Konsequenzen für ihre Online-Meinungen tragen sollen. Aber ich verstehe auch die Diskussion darüber, ob in diesem Fall nicht vielleicht eine öffentliche und persönliche Entschuldigung samt Abmahnung hilfreicher gewesen wäre. Darf man Empathie für solche Arschlöcher zeigen? Ich weiß es nicht.
Was ich weiß ist: Wenn unsere Kinder zu empathischen digitalen Persönlichkeiten werden sollen, müssen wir Erwachsenen früh anfangen, ihnen den Unterschied zwischen Werten und Bewertungen, Empathie und Narzissmus, Meinung und Hetze zur erklären. Ihnen Toleranz und Respekt vorleben und gleichzeitig zeigen, dass man auch Grenzen setzen muss.
Mit Maria führe ich häufig Unterhaltungen, für die sie zu meiner Zeit zu jung gewesen wäre. Ich suche in ihren Erzählungen vom Tage nach Anknüpfungspunkten, um mit ihr übers Anderssein zu reden, über Worte, die verletzen können, über tödliche Traurigkeit, über Neid, übers Glücklichsein, über Angst und Mut. Oder wir reden nach dem Vorlesen. Und am Freitag, wenn wir zusammen Logo-Kindernachrichten und den Kika-Abendfilm geschaut haben. Am Anfang habe ich an unseren Lollywood-Filmabenden nebenher am Laptop geschrieben und im Smartphone gescrollt. Jetzt versuche ich wirklich offline mit ihr zusammen den Film anzusehen. Um ganz für sie und ihr Fragen da zu sein.